Es war ihr erster Arbeitstag, als der Mann, der sie einstellte, starb.
Sie beugte sich nach vorne, stützte die Hände auf die Knie und betrachtete ein in weißgelbes Leinen gebundenes Fotobuch, das halb aufgeschlagen und kopfüber auf dem Marmorboden lag. Sie stand in Hektor Alcaraz Haus am Südende von Palm-Springs. In seinem Wohnzimmer um genau zu sein. Dort sollte sie putzen, saugen und wischen. Bei der Größe dieses Anwesens würde sie dafür den ganzen Abend und die ganze Nacht brauchen, rechnete sie sich aus. Hektor Alcatraz Anwesen stand auf etwa zweitausend Quadratmetern gepflegter Rasenfläche am Rande des Indian Canyons wo die Toledo Avenue einen langen Bogen machte und zurück in den Norden führte. Es war umschlossen von hochgewachsenen Palmen und hüfthohen Büschen und hatte in der Mitte einen langgezogenen Pool, um den ein modernes Kubushaus auf der einen und ein mit roten Ziegeln gedeckter Flachbau auf der anderen Seite stand. Zwischen den Gebäuden und zu beiden Seiten des Pools war der Boden mit quadratischen Steinplatten gepflastert, auf denen wellenförmige Liegen unter einem modernen Sonnendach standen.
Sie hob das Fotobuch auf, klappte es zusammen, schob es zurück in das Regal und rückte es gerade. Dann ging sie in die Küche zum Kühlschrank und schenkte etwas Orangensaft mit Fruchtfleisch in einen kleines, spitz zulaufendes Glas. Sie trank in einem Zug aus und leckte sich anschließend über die Lippen. Dann zog sie aus dem obersten Fach des Kühlschranks eine Schachtel Godiva Pralinen und aß zwei davon. Sie wusste, dass es den Mann, der hier wohnte, nicht stören würde, wenn sie in seiner Abwesenheit etwas aß und trank. Er würde es wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Dann ging sie zurück in das Wohnzimmer, wo sie ihren Rucksack auf eine eckige und ungemütlich aussehende Couch warf. In diesem Rucksack war ein kleiner Karton mit Einweghandschuhen, etwas Putzmittel, eine Plastikflasche Wasser von der Tankstelle, die sie auf dem Weg besorgt hatte und eine kleine Brotdose. Sie zog zwei trübe Handschuhe aus dem Karton, ging mit diesen zur breiten Fensterwand und zog sie über, während sie das Wasser im Swimming Pool betrachtete.
Dann schaute sie über den Flachbau auf die sandigen Hänge des Canyons, die in der Ferne verblauten. Es war bereits August und die Sonne fast hinter der zackig auf und ab laufenden Kontur der Hügelkette verschwunden. Ein goldener Schein überzog das leere Anwesen und wärmte ihre Wangen. Sie streckte ihre Arme zur Decke und presste ihre Fußballen in den Boden. Dabei stöhnte sie zufrieden. Ihr drahtiger Körper wurde gegen den Schein der Sonne zu einer dunklen Silhouette, die an eine in die Jahre gekommenen Ballerina erinnerte. Sie ließ die Arme nach unten fallen, die Schultern hängen und gähnte. Dabei betrachtete sie die langen dünnen Schatten der Palmen, die über die rauschende Wasseroberfläche bis fast vor ihre Füße fielen.
Ein dumpfer Knall riss sie aus ihren Gedanken. Sie schnellte herum und suchte den Raum ab. Ohne darüber nachzudenken, hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt. Der Knall klang, als wäre ein dickes Buch aus dem Bücherregal gestürzt. Doch nichts bewegte sich, oder hatte sich bewegt. Vor ihr lag nur ein stiller und leerer Raum eines wohlhabenden Mannes.
Sie lauschte und hörte die Palmen und Büsche, die sich auf der anderen Seite des Fensters im Wind bewegten und das weit entfernte Blubbern eines alten Motorrads, das wahrscheinlich auf dem Weg von den Trails zu den belebten Straßen im Norden war. Sie hörte das rhythmische Summen des Kühlschranks aus der Küche. Sonst hörte sie nichts, zugleich sie wusste, dass sich ihre Ohren nur selten täuschten. Sie verbrachte viel Zeit in den Häusern der Anderen und hatte deshalb ein besonderes Gespür für die Gegenwart anderer Menschen. Sie war nicht länger alleine, das spürte sie. Sie suchte den Raum ein zweites Mal ab. Auf dem flachen Massivholz Tisch vor der Couch fand sie, was sie suchte.
Auf dem Tisch lagen einige Herren Lebensart Magazine mit abgeknickten Ecken und zwischen ihnen, neben einer rustikalen Tasse aus grau lasiertem Steinzeug, lag ein mit Fingerabdrücken überzogener Brieföffner. Etwas besseres konnte sie auf die Schnelle nicht finden. Sie klammerte sich an dieses spitze Stück Edelstahl und ging aus dem Wohnzimmer in den Flur. Der Flur war ein breiter Gang mit Marmorboden und großen Fotodrucken an den Wänden. An der Wand zu ihrer rechten stand eine lange Kommode aus dunklem Holz mit breiten Schubladen, an denen schwarze Eisengriffe angebracht waren. Hinter der Kommode führte eine Treppe in einem flachen Winkel in den zweiten Stock. Sie schlich an der Kommode vorbei. Es war in diesem Moment als sie einen zweiten und lauten Knall hörte. Sie drückte sich an die Wand gegenüber der Kommode und hielt die Luft an. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter und sie versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. Sie lauschte erneut. Die Geräusche kamen aus dem ersten Stock, da war sie sich nun sicher. Sie umklammerte den Brieföffner, der mittlerweile durch ihre Hände aufgewärmt war und ging die Treppe hinauf.
Sie erreichte das Ende der Treppe und lauschte ein weiteres Mal, bevor sie um die Ecke bog. Außer ihrem Herzschlag, der in einem schnellen Takt gegen ihre Kopfdecke drückte, hörte sie nichts. Sie wusste nicht, was sie im zweiten Stock erwartete, also zählte sie innerlich bis drei und bog, den Brieföffner von sich gestreckt, um die Ecke und hielt die Luft an. Vor ihr lag ein weiterer leerer Gang. Ein langer blauer Teppich mit cremefarbenen abgesteppten Rändern klebte wie ein altes Kaugummi auf dem Boden. Er endete vor einer massiven Tür mit einer geschwungenen Türklinke. Die Tür stand einen Spalt offen. Der Teppich war an einer Ecke wie ein Katzenohr umgeklappt. Jemand war an der Kante hängen geblieben und hatte sie etwa einen halben Meter mit sich gerissen. Außerdem bemerkte sie, dass der Teppich schmutzig war. Hellbraune Sandkörner hatten sich in die Lücken zwischen die dicken Fäden gesetzt. Mit ihrem rechten Fuß, an dem sie eine an den Rändern fusselnde Sandale trug, die ihre blau lackierten Fußnägel zeigte, klappte sie die Teppichkante zurück. Dann ging sie zu der Tür, kniff ein Auge zu und versuchte, etwas durch den Spalt zu erkennen. Doch alles war schwarz. Noch ein weiteres Mal zählte sie bis drei und dann öffnete sie die Tür.
Sie starrte in einen pechschwarzen Raum, aus dem ihr ein chemischer Geruch entgegen schlug. Hektisch tastete sie rechts und links nach dem Lichtschalter. Sie fand ihn auf der linken Seite. Der Schalter war eine runde Plastikscheibe, die zu einem Dimmer gehörte. Sie drehte den Dimmer solange, bis er sich nicht mehr weiter drehen ließ. Der Raum wurde hell und sie erkannte, in was für einem Raum sie stand. Es war eine Dunkelkammer, die Fotografen nutzten, um Bilder zu entwickeln. Die Fenster waren durch Verdunklungsstoffe abgedeckt und eine Pumpe summte aus der Ecke des Raums. Auf einer Arbeitsfläche aus hellem Holz standen verschiedene elektronische Geräte. Und vor dieser Arbeitsfläche lag der Körper eines Mannes auf dem Boden. Er lag auf dem Rücken und trug eine marineblaue Shorts aus feinem Stoff, die seine Oberschenkel hochgerutscht war, so dass etwas ungebräunte Haut darunter hervor blitzte. Dazu trug er ein helles Hemd, von dem nur die untersten drei Knöpfe geschlossen waren. Er hatte dunkles Brusthaar und einen kräftigen Hals, um den sich eine dünne vergoldete Kette schlang. Sein Kopf lag auf der Seite und schaute nur wenige Zentimeter vom Boden entfernt in einer gerade Linie in ihre Richtung. Das Haar war kurz geschoren und pechschwarz. Ein Arm war ausgestreckt, der andere lag auf seiner Brust.
„Oh Herr im Himmel“, hauchte sie und kniete sich zu dem Mann. Vor ihr lag Hektor Alcaraz und atmete nicht mehr. Zwischen den Chemikalien roch sie ein frisches Rasierwasser. Sie berührte seinen Arm. Seine Haut war noch warm und die Augen noch immer lebendig. Sie handelte ohne nachzudenken, zog ihr Handy aus der Hosentasche ihrer Jeans und rief einen Krankenwagen. Aber noch während sie dem Sanitäter die Adresse mit ihrem starken Akzent buchstabierte, wusste sie, dass jede Hilfe für diesen Mann zu spät kam. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen, als sie ihren eigenen Mann eines Tages völlig regungslos auf dem Boden ihres Schlafzimmers gefunden hatte. Ein Herzinfarkt. Dabei sah ihr Mann nicht so elegant und gut gekleidet aus wie Hektor Alcaraz. Sie stand auf und trat einen Schritt zurück. Sie war traurig. Nicht weil Hektor Alcaraz tot war, sondern weil sie nun niemand mehr für diesen Abend bezahlte.
Während sie auf den Krankenwagen wartete, inspizierte sie die Arbeitsfläche. Die meisten Bilder waren durch das plötzliche Licht ruiniert. Die meisten Filme waren für immer verloren. Über der Arbeitsfläche an der Wand hing nur ein einzelnes Foto, das mit einem kurzen Stück Klebeband befestigt war. Sie löste das Foto von der Wand. Auf dem Foto war eine lachende junge Frau zu sehen. Sie trug nur einen schmal geschnittenen Bikini mit buntem Muster und saß auf einer Steinmauer. Und obwohl es nur ein Foto war, hörte sie die Frau in Gedanken lachen. Sie verstand nichts von Fotografie, doch sie wusste, dass dies ein gutes Foto war. Vielleicht sogar ein besonders gutes. Und auf jeden Fall das letzte Foto von Hektor Alcaraz. Sie überlegte, ob sie das Foto mitnehmen sollte. Vielleicht wäre es einmal etwas wert. Sie entschied sich dagegen und ging zurück in die Küche. Dort trank sie noch etwas mehr Saft und aß noch drei weitere Pralinen. Die letzten Pralinen verstaute sie in der Brotdose, die sie aus ihrem Rucksack holte. Ihre Kinder würden sich über diese Leckereien freuen. Sie warf die nun leere Schachtel in den Müll und ging ins Wohnzimmer. Dort zog sie das Fotobuch aus dem Regal und setzte sich auf die Couch. Sie blätterte ein wenig darin herum, dann klappte sie es zu, legte es zur Seite und nahm sich stattdessen eines der Magazine. Die Sonne war nun fast vollständig untergegangen. Jetzt würde es draußen langsam abkühlen. Im Haus war es noch immer warm und das würde sich auch nicht ändern. Sie dachte nicht weiter an Hektor Alcaraz, sondern lehnte sich zurück, wartete auf den Krankenwagen und genoss, was ihr noch von dem Abend blieb.