Der Mast

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Das Fernsehbild rauschte in schwarz und weiß und Gleb tastete nach der Fernbedienung. Er tastete über den grob gewebten Bezug, über Krümel hin zu dem Spalt zwischen Armlehne und Sitzkissen. Eingeklemmt und nach oben ­stehend fand er das schwarze Stück Kunststoff. Die Tasten glänzten fettig und die Aufdrucke waren nur noch fleckige Reste. Mit dem Daumen drückte er den roten Knopf. Dann schaute er auf. Schwarz und Weiß. Rauschen. Die schwarze Riesenschnauzerdame, die eingerollt neben ihm auf der Couch lag, vergrub ihren Kopf tiefer in den rauen Stoffbezug und seufzte. Gleb probierte es ein zweites Mal. Dann stand er auf und ging steif zum Fernseher und klopfte von links und rechts abwechselnd auf die Plastikverkleidung. Er ging zurück und ließ sich auf die Couch fallen.
„Mistding“, sagte er und rutschte auf den Rand der Couch vor. Die Hündin schaute auf.
„Nicht du“, sagte er und tätschelte ihren Kopf.
Er rieb sich die Augen und kratzte sich am Hinterkopf. Jedes Jahr dasselbe Spiel. Die Bäume warfen ihre Blätter ab, die alte Heizung blubberte unregelmäßig und die trockene Luft sorgte dafür, dass seine Kopfhaut juckte. Und zu kratzen machte es nur schlimmer.
Das Wohnzimmer, in dem er saß, war ein kleiner Raum und bis auf den Fernseher, ein paar schiefen Regalen aus Eichenholz, einer alten Stehlampe aus Messing mit geblümten Schirm und einem Teppich mit Persermuster kaum eingerichtet. Die wenigen Bilderahmen lagen alle kopfüber auf der Bildseite. Seiner Frau hatte es schon immer gefallen, wenn die Räume nicht so vollgestopft waren. Und wenn sie damit zufrieden war, war auch er damit zufrieden, denn er verstand nicht sonderlich viel von Möbeln oder Dekoration.
Gleb stand auf und ging zum Fenster. Der Regen schlug aus östlicher Richtung gegen das staubige Glas. Er zog an der weißen Kette, die unter dem Schirm der Stehlampe baumelte und mit einem Klick erlosch das Licht und aus dem Bild des alten Mannes, dass ihn blass von der Scheibe aus anstarrte, wurde das eines müden Waldes, in dessen Mitte die Spitze eines alten Sendemastes in nebeligem blau fast in der Dunkelheit verschwand. Gleb lehnte sich vor und zeichnete einen Kreis in den Staub. Auf der anderen Seite des Glases lösten sich zwei Tropfen und liefen in dünnen Fäden nach unten. Der Mast war sein Ziel. Und bei dem Gedanken in dieser Kälte noch einmal durch den Wald zu müssen, zwickte es in seinem linken Knie.
Mit hängenden Schultern schlurfte er in den Flur. Dort roch es nach altem Hundefutter. Zwischen verschiedenen Steppjacken in rot und blau mit Blumenmuster zog er einen gewachsten Regenmantel von der Kleiderstange. An der Wand stand eine tiefe Kommode auf breiten, gebogenen Füßen. Aus der obersten Schublade nahm er eine Wollmütze und aus der mittleren eine Taschenlampe mit Gurt und eine Hundeleine mit einem Eisenring am Ende. Bevor er zurück in das Wohnzimmer ging, stellte er die Heizung im Flur zwei Stufen höher.
Die Hündin lag noch immer zusammengerollt auf der Couch. Sie hieß Suzanna. Eine Idee seiner Frau. Er nannte sie meistens nur Anna. Das ließ sich besser rufen.
„Wir müssen noch mal raus“, sagte er.
Dann schaute er auf seine alte Seiko Armbanduhr, die auffallend lose an seinem Arm hing. Er nahm jeden Herbst ein paar Kilo ab. Während dieser Zeit triezte ihn seine Frau bei jeder Mahlzeit, noch etwas mehr zu essen. Meistens tat er das nicht. Sie nahm ihm das nie übel, sondern probierte es bei der nächsten Mahlzeit einfach aufs Neue. Er hatte sich schon immer weniger Sorgen um die meisten Dinge gemacht. Der Winter würde kommen und dann der Frühling. Und er würde wieder zunehmen, so wie die Eichen und das Gras wieder zu blühen beginnen würden.
„Wahrscheinlich ist mittlerweile Werbepause. Wenn wir uns beeilen, dann verpassen wir nichts.“
Er sagte diesen Satz mit Überzeugung und Hoffnung. Anna schien das alles nicht zu interessieren. Erst als er mit der Leine wedelte, erwachte die Hündin zum Leben. Sie sprang von der Couch, schüttelte sich und tippelte zu ihm. Das schwarze Fell schimmerte blau.
„Du stinkst“, sagte er, „Aber das tue ich auch.“
Er warf die Leine auf den Dielenboden. Anna packte die Leine mit ihrem Fang und trabte zur Haustür.

*

Gleb öffnete die Haustür einen Spalt und Anna schlüpfte durch die Lücke zwischen seinen Beinen hinaus. Der Hof war dunkel und verlassen. Ein Weg aus Natursteinen führte an einem kleinen Schuppen vorbei zu einem breiten Eisentor. Er zog seine Mütze bis über die Augenbrauen. Das kleine Holzdach über seinem Kopf rottete in der Feuchtigkeit dahin. Wie durch ein Sieb lief das Regenwasser durch die Lücken auf den Boden vor dem Haus und sammelte sich in kleinen Pfützen. Anna interessierte sich weder für den Regen, noch für die Kälte, sondern verschwand schnell in der Dunkelheit. Er schloss die Tür hinter sich und holte eine kleine Metalldose aus dem Mantel, nahm eine selbstgedrehte und schiefe Zigarette hinaus und entflammte diese mit einem Benzinfeuerzeug. Seine Frau sah es nicht gerne, wenn er rauchte, deshalb machte er es meistens draußen, wenn er alleine war. Er verstaute die Dose und knüpfte den Mantel bis unter den Hals zu. Eine Hand schob er von oben in seine Manteltasche, mit der anderen hielt er die Taschenlampe, die ihm den Weg leuchtete. Anna wartete bereits mit wedelndem Schwanz vor dem Eisentor.
„Ruhig“, sagte Gleb.
Anna legte die Ohren an. Das Eisentor war Teil einer alten Mauer, die mit spitz gefeilten Metallstacheln bedeckt war. Er hatte sie selbst angebracht, um neugierige Menschen und fette Tauben von seinem Grundstück fernzuhalten. Er öffnete das Eisentor. Dann ging er gemeinsam mit Anna in den Wald.
Der alte Mast stand am höchsten Punkt auf einem kleinen Hügel direkt hinter dem Waldstück. Der Weg dorthin war eng und gewunden. Die Erde hier und da aufgewühlt von den Wildschweinen, die zu dieser Zeit besonders aktiv waren.
Es ging bergauf. Im Schatten der hochgewachsenen Tannen sah er totes Holz, ausgespülte Wurzeln und abgeknickte Äste. In der letzten Zeit hatte es viel gestürmt und die Sonne schien nur noch selten. Und in diesem Moment fühlte er es. Er fühlte, dass das Leben auf dem Rückzug war. Alles um ihn herum schien zu verfallen und langsam zu sterben und bald würde der Winter all den Tod in sein weißes Kleid hüllen und uns einladen, Arm in Arm das neue Gewand zu bewundern.
Anna trabte munter in Schlangenlinien über den Weg, machte kurze Abstecher in den Wald und kam anschließend hechelnd zurück. Sie schnüffelte hier und da und schnaubte. Gleb lächelte in der Dunkelheit.
Würdest für immer hier bleiben, wenn ich nicht wäre, dachte er. Sie näherten sich dem Waldende und der Regen nahm zu. Dort wo der Wald endete, begann eine wildwachsende Wiese.
Gleb passierte eine aus dem Boden gerissene Baumwurzel, bog nach links und folgte einem ausgetretenen Pfad den Hügel hinauf. Hier fegte der Wind ungebremst über die Gräser. Die Hand, mit der Gleb die Taschenlampe hielt, brannte. Der Mast lag nun direkt vor ihm.
Er war nicht viel mehr als ein funktionales Metallskelett, das von braunen Rostflecken übersäht war und langsam in dem aufgeweichten Boden zu einer Seite absackte. Gleb zielte mit der Taschenlampe auf den Mast. In der Mitte des Lichtkreises hing eine schiefe Satellitenschüssel, die mit schwarzem Klebeband an einer Querstrebe befestigt war. Der Wind hatte die Schüssel ein gutes Stück verschoben. Er wischte sich das Wasser von den Wangen und der Nase und ging einige Schritte um den Mast herum und beleuchtete die Schüssel von der Seite. Anna schloss zu ihm auf. Dann hörte er Anna knurren.
„Was ist?“, fragte er.
Mit dem Licht der Taschenlampe suchte er den Boden zwischen dem Mast und dem Waldrand ab. Das Licht verlor sich in der Ferne und ein nebeliger Dunst machte es unmöglich, weiter als einige Meter zu sehen. Er zog die Hundeleine aus der Manteltasche, doch es war zu spät.
Anna war bereits unterwegs und ihre blau schimmernde Silhouette verschwand im Nebel vor der schwarzen Wand, die der Wald auf der anderen Seite der Wiese war.
„Verdammtes Tier“, fauchte Gleb.
In der Ferne begann Anna zu bellen. Gleb rief die Hündin. Ein erstes Mal und ein zweites Mal. Das dritte Mal sparte er sich und folgte ihr über die Wiese und tief in den Wald hinein.
Seine Muskeln waren steinhart von der Kälte und seine Gelenke steif und während er durch Büsche und vorbei an Bäumen weiter in die Dunkelheit lief, wechselte er die Hand mit der er die Taschenlampe hielt. Aber auch diese Hand begann bald zu zittern. Das Gebell wurde lauter und er spürte, dass er nahe war. Er rieb sich die Augen und marschierte weiter voran.
Dann fand er die Hündin. Mit aufgestelltem Nackenhaar patroullierte sie auf und ab. Zwischen ihr und Gleb lag ein Wesen in der Dunkelheit. Er hob die Taschenlampe und trat näher.

*

Es war ein Reh, das dort in der Dunkelheit lag. Nicht alt, vielleicht ein paar Monate, vermutete er. Die weißen Punkte waren bereits verschwunden und wurden durch ein dichtes, rotbraunes Winterfell ersetzt. Es lag auf der Seite im Dreck. Auf dem Fell klebten Schlamm und tote Blätter. Es atmete hektisch. Natürlich tat es das. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe spiegelte sich in den großen, dunklen Augen, während er mit ausgestreckten Armen näher kam.
„Ich tue dir nichts“, sagte er.
Ein Flüstern zwischen Regen und Wind. Er stellte die Taschenlampe auf den Boden und drückte sie etwas in die weiche Erde, sodass sie einen flachen Kegel über das Tier warf. Dann machte er langsam einen Schritt nach vorne. Ein koordinierter Ruck ging durch den kräftigen Körper des Tiers, so als hätte jemand eine unsichtbare Schnur gespannt. Aber es nützte nichts. Die dünnen Beine waren reglos wie totes Holz. Gleb erkannte mehrere tiefschwarze Löcher am Hals des Rehs.
Sofort machte er kehrt, ging zu seiner Hündin, packte ihre Schnauze fest mit beiden Händen und untersuchte ihren Fang. Anna knurrte. Ihre Vorderbeine hingen in der Luft. Die Schnauze war feucht und die ledrige Haut glänzte. Aber Gleb fand kein Blut.
„Habe ich auch nicht gedacht“, sagte er und ließ den Kopf seiner Hündin frei. Anna schüttelte sich. Gleb ging zurück zu dem Reh und kniete sich hin. Dabei blieb er etwa einen Meter von dem Tier entfernt, denn er wollte es nicht unnötig verängstigen. Er bemerkte Blut auf dem Boden.
Ich will dir helfen, dachte er.
Aber er wusste, dass es hoffnungslos war. Das Reh hatte kaum noch Kraft und starrte nur noch in den Wald. Gleb ließ den Kopf hängen. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Er wischte sich das Wasser von der Oberlippe. Der Anblick des Tieres machte ihm zu schaffen. Genau wie der Regen. Und die Kälte. Und sein ganzes Leben. Alles machte ihm zu schaffen.
Es war in diesem Moment, dass er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper und er riss herum. Nichts. Er war alleine. Er rieb sich die Augen und schüttelte seinen Kopf. Dann drehte er sich wieder zu dem Reh. Aber es war verschwunden, genau wie Anna. Nirgendwo ein Licht, so als hätte man ihn mitten in der Nacht im Pazifik von einem Boot geworfen.
Er atmete schwer und versuchte sich zu beruhigen, indem er eine Melodie summte, die ihm sein Vater beigebracht hatte. Sein Hals vibrierte. Er sog kalte Luft ein und presste sie mit einem Teil seiner eigenen Wärme wieder hinaus. Und während er Ton für Ton die Melodie zusammensetzte, sah er das Reh in der Dunkelheit erscheinen. Es lag noch immer auf der Seite, aber es hob den Kopf. Und neben dem Reh saß eine Frau in einem wunderschönen blauen Kleid mit einem Muster aus kleinen goldenen Sonnenblumen. Der Wind schien sie nicht berühren zu können. Ihr schulterlanges, rotbraunes Haar verschmolz mit dem Fell des Tieres, als sie sich über dieses beugte. Sie legte einen Arm um den Hals des Rehs und flüsterte dem Tier etwas zu. Gleb verfolgte aufmerksam jede Bewegung ihrer Lippen. Er streckte einen Arm aus und ging auf sie zu, doch die Frau stand auf und schüttelte den Kopf. Dann machte sie kehrt und verschwand in der Dunkelheit. Nur das Reh blieb zurück. Er ging zu dem Reh, bis er ganz nahe war. Die Kälte, die von dem Reh ausging war stärker als jede Kälte, die er in seinem ganzen Leben gespürt hatte.
Das Reh sprach zu ihm. Er schloss die Augen und lauschte. Es waren nur ein paar Worte, gesprochen von einer bekannten Stimme und gefüllt mit den Erinnerungen zweier Leben. Er wollte antworten, doch er schaffte es nicht, die Worte zu formen. Wärme überschwämmte seinen Körper. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter und er weinte solange, bis er nicht mehr konnte.
Als er die Augen wieder öffnete, stand Anna vor ihm und hechelte. Das Reh lag vor ihm und atmete nicht mehr. Er strich der Hündin über die Flanke. Seine Hände waren taub von der Kälte. Er legte Anna die Leine an und gemeinsam gingen sie zurück zum Haus, ohne einen weiteren Gedanken an den Mast zu verschwenden.
Gleb zog seine Stiefel aus, bevor er das Haus betrat. Annas Pfoten reinigte er mit einem alten Handtuch, auf dem kleine Sonnenblumen aufgedruckt waren. Die Hündin verschwand sofort im warmen Wohnzimmer, aber Gleb ging daran vorbei die Treppe hinauf und in die zweite Etage. Seine Hand ruhte für einen Moment auf der Eisenklinke, bevor er das Schlafzimmer betrat. Es war dunkel. Er ging zum Nachttisch und schaltete die Lampe ein. Auf dem Bett lag seine Frau. Sie trug ihr liebstes Kleid und ihr schulterlanges, rotbraunes Haar lag glatt auf dem Bettlaken. Er zog seine nassen Socken aus und ging um das Bett herum und legte sich zu ihr. Er zitterte von der Kälte, also rutschte er näher. Je näher er ihr kam, desto stärker zitterte er. Ihre Haut war blass und ihr Körper starr. Ihr Haar hatte sich seit Tagen nicht bewegt. Nichts aus dieser Welt schien sie noch berühren zu können. Er schloss die Augen. Tränen rollten seine Wangen hinab und er begann zu flüstern.
Er flüsterte solange, bis der Regen aufhörte und der Wind nachließ. Solange bis es still wurde im Haus. Solange bis nur noch das Flüstern eines einzigen Mannes zu hören war. Das Flüstern eines Mannes, der Abschied nahm.

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