Das Geschenk

»Sie müssen verstehen, dass uns die Spezies der Pi in den allermeisten Eigenschaften ähnelt, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied. Was als biologische Anomalie begann, entwickelte sich schnell zu einer philosophischen Problemstellung. […]«

Modul: Entwicklungsbiologie, Einleitung erweiterte Biogerontologie anhand der Pi – verantwortlich: Dr. Ruben García


Ruan saß mit seiner Tochter Tara am Küchentisch. Tara trug einen weiten Pullover und hockte im Schneidersitz auf dem Stuhl. Der Pullover schien sie komplett zu verschlingen, nur der Kopf blieb verschont.

»Sehe ich aus wie einundzwanzig?«, fragte Tara.

Ruan stützte sich auf seine Unterarme und seufzte. Ihm fehlten jegliche Referenzpunkte, um eine solche Frage zu beantworten.

»Deiner Mutter siehst du ähnlich.« 

»Findest du, die Haarfarbe steht mir?«

Sie fuhr sich durch ihr rosa schimmerndes Haar. Auf Ruan wirkte es künstlich, fast so wie Lametta.

»Mir hat die alte auch gefallen.«

»Du findest es hässlich!« 

Tara warf sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte ihre Arme. 

»Deiner Mutter würde es…«, begann Ruan. Taras Miene wurde finster. Zwischen dem rosa Lametta fixierten ihn kohlschwarze Augen. Tara redete nur sehr selten und wenn, dann ungern über ihre Mutter. 

Auf dem Tisch stand eine schwarze Nylontasche, aus der Ruan einen in Plastik eingeschweißten Fertigkuchen zog

»Stück Kuchen?«

»Du probierst zuerst.« 

Ruan schob sich ein großes Stück Kuchen in den Mund. Die süße Zuckerglasur kribbelte auf seiner Zunge und er verzog seinen Mund. Taras Miene wandelte sich von finster zu amüsiert. Ihre Schultern sanken herab, sie klatsche in die Hände und lachte.

»Nein. Danke. Ich verzichte.« 

Sie versuchte gar nicht erst, ihre Schadenfreude zu verbergen. Ruan zwang sich das Stück hinunter. Er spürte jeden Zentimeter, den es in Richtung seines Magens zurück legte.

»Ich brauche ein Glas Wasser.«

»Wasser heute nur im Bad. Die Handwerker haben die Leitung ruiniert.«

Noch immer trocken schluckend setzte sich Ruan in Bewegung. Hinter seinem Rücken räusperte sich Tara lautstark. 

»Was?«, fragte Ruan.

Tara deutete lässig mit ihrem Blick und der Nasenspitze in eine andere Richtung.

»Fürs Bad: da entlang.«

»Für wie alt hältst du mich?«

Tara hatte mittlerweile vollständig zu ihrer guten Laune zurückgefunden und kicherte unkontrolliert vor sich hin.

»Schwer, das mit Zahlen zu beschreiben.« 

Ruan wollte antworten, verlor sich jedoch auf dem Weg zu einem passenden Kommentar in Gedanken. Er war alt. Und es wurde schwerer und schwerer in Zahlen zu beschreiben.

»Ich will vorher ins Wohnzimmer.« Das letzte Wort betonte er. Taras Blick verriet ihm, dass es zwar nicht für Autorität, aber Klarheit sorgte.

»Wie du meinst. Die Handwerker waren fleißig.«

Natürlich waren sie das. Ruan hatte sich um die besten gekümmert. Dementsprechend viel hatte es ihn gekostet. Es war die Standardprozedur für das Geschenk. Trotzdem wollte er die Arbeit kontrollieren.

Taras Blicke wanderten immer wieder zu der schwarzen Nylontasche. Seit er heute die Wohnung betreten hatte, galt ihr Interesse ganz und gar diesem Objekt.

»Finger weg von der Tasche während ich drüben bin.«

Tara warf spielerisch ihre Hände in die Luft. 

»Ich meine es ernst.«

»Schon gut. Aber technisch gesehen, ist es meins.« 

Ihre Augen funkelten. Für Ruan war es kein Spiel. 

»Ich hole Wasser aus dem Bad und mache uns einen Kaffee.«

»Gut«, sagte Ruan und ging ins Wohnzimmer.

Der schlauchartige Raum war in zwei Hälften aufgeteilt, mit zwei großen Fenstern am Raumende. Die rechte Seite war bis auf den letzten Zentimeter vollgestellt. Die linke Seite war leergeräumt und der Parkettboden noch mit Staub und Putzresten bedeckt. Das Parkett knartschte unter Ruans Schritten. Er hustete. Der feine Staub legte sich nach und nach auf die empfindlichen Stellen in seinem Rachen. Er öffnete ein Fenster und inhalierte so viel frische Luft, wie er nur konnte. Er fühlte sich besser, aber neben billigem Fertigkuchen und Feinstaub in der Luft, machte ihm noch mehr zu schaffen.

Die Arbeit der Handwerker war unübersehbar. In der Mitte der linken Wand war auf Brusthöhe ein postergroßes Stück Metall in die Wand eingelassen worden. Die Oberfläche war aus gebürstetem Metall mit einem kleinen Quadrat aus spiegelglattem Metall in der Mitte. Taras Hand musste exakt auf diese Fläche passen. Er berührte das glatte Stück Metall und zog die Hand sofort zurück. Das Metall war eiskalt. Zwei Fingerabdrücke blieben auf der Oberfläche zurück, die jedoch schnell verschwanden. Das Metall schien diese wie ein Schwamm aufzusaugen. 

Das gebürstete Metall war etwas wärmer. Es fügte sich fast nahtlos in die Wand ein. Ruan spürte feine Adern, die in einem wirren Muster über das Metall verliefen. Mit dem bloßen Auge waren sie nicht zu erkennen. Zumindest nicht für Ruans müde Augen. Er verschränkte die Arme und trat ein paar Schritte zurück. Er war zufrieden. Wenn Tara das Wohnzimmer wieder vollständig eingerichtet hatte, würde der Tresor kaum auffallen. Er wäre einfach nur ein weiteres Ding, zwischen all den anderen Dingen. Die Handwerker hatten ihre Prüfung bestanden. Nun war seine Tochter an der Reihe.

Die Küche war leer. Es genügte ein schneller Blick, um festzustellen, dass die Nylontasche ebenfalls verschwunden war. Die Kaffeemaschine war ausgeschaltet.

»Tara?«

Niemand antwortete. Es war still in der Wohnung. Ruan spurtete durch den kleinen Raum. Seine Beine waren spontane Beschleunigungen nicht mehr gewohnt und beschwerten sich dementsprechend.

Hinter dem Tisch entdeckte er die leere Tasche auf dem Boden. Tara konnte nur im Bad oder im Schlafzimmer sein. Mehr Räume hatte die Wohnung nicht zu bieten. Ruan warf die Tasche in die Ecke und hetzte über den Flur zum Bad. Der Boden beschwerte sich lautstark über die Kraft seiner Tritte. Die Tür zum Bad war abgeschlossen. Er donnerte mit seinen Händen gegen das dünne Stück Holz.

»Tara! Mach sofort auf!«

Es folgte Stille, die einige Momente anhielt. Ruan ging vor der Tür auf und ab. Dabei machte er alle zwei Schritte eine Pause, um zu lauschen. Dann verlor er die Geduld.

»Mach schon auf! Du hättest es dir nicht einfach nehmen dürfen.«

»Aber es gehört mir. Was macht es für einen Unterschied?«, antwortete Tara schließlich. 

»Es ist gefährlich.«

»Ich weiß.«

»Mach mir bitte auf.«

»Nein.«

Ruan ließ den Kopf hängen.

»Ich kann dich beruhigen. Ich will es gar nicht mehr«, sagte Tara.

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass du es wieder mitnehmen kannst.«

Ruans Blick senkte sich, dabei schnaufte er.

»Kommst du raus?«

»Nein.«

»Gut. Ich warte in der Küche auf dich. Aber versprich mir, dass du es nicht anrührst.«

Ruan wartete die Antwort ab.

»Es liegt in meinem Schlafzimmer, auf dem Bett.«

Das Schlafzimmer war nicht mehr als ein großes Bett mit circa einem Meter Rand in alle Richtungen. Auf dem Bett, eingesunken in einer geblümten Bettdecke, lag das Geschenk. Die Bettdecke roch frisch gewaschen. Ruan ließ sich auf dem Bettrand nieder und griff nach dem silbrig glänzenden Gegenstand. Er war aus demselben Material gefertigt wie der Tresor im Wohnzimmer und fühlte sich ebenso kalt und industriell an. Ruan konnte die Flüssigkeit spüren, die im inneren bei jeder kleinen Bewegung hin und her schwappte. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er sein Geschenk bekam. Das war vor fast einem Jahrhundert gewesen. Seitdem hatte er es nur wenige Male aus seinem Tresor geholt. Das letzte Mal ist schon viele Jahre her. Den Zylinder zu halten machte ihn nachdenklich. Daher bemerkte er auch nicht, dass plötzlich seine Tochter vor ihm stand. Ihre Wangen glänzten und waren rot gefleckt. Ihre Haare trug sie jetzt in einem strengen Zopf.

»Ich bin bereit.«

Ob sie wirklich bereit war, konnte Ruan ihr nicht ansehen. Ob er bereit war, wusste er ebenso wenig. Er gab ihr den Zylinder. Tara versuchte zu lächeln.

»Du musst ihn so halten.«

Ruan führte ihr die Bewegung vor. Tara machte es ihm nach.

»Es vibriert«, sagte Tara.

Auf der makellosen Oberfläche des Zylinders erschien eine Fuge und ein schmaler Teil des Zylinder schob sich hinaus. Tara packte automatisch zu. Der Teil fungierte als Griff. Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich ein Loch, in dessen Mitte eine fadendünne Nadel das Licht fing. Die Spitze zog Vater und Tochter in ihren Bann.

»Ich habe Angst«, sagte Tara.

»Ich auch«, antwortete Ruan und holte tief Luft, »Alles Gute zum Geburtstag mein Schatz.«

Er ging einen Schritt auf seine Tochter zu. Dann tippte er sich an die Schläfe. 

»Das ist der sicherste Ort.«

Taras glänzende Augen folgten seinen Bewegungen.

Und so begann Ruan seiner Tochter den Gegenstand zu erklären, mit dem sie sich eines Tages das Leben nehmen würde.

»[…] Betrachten wir nun die Herkunft des Namen Pi: Nach der Entdeckung der Pi wurden unterschiedliche Vorschläge unterbreitet. Durchgesetzt hat sich ein Name, der seinen Ursprung in der Mathematik findet. Als irrationale Zahl hat Pi im Dezimalsystem kein definiertes Ende. Einfach gesagt: Es gibt immer eine weitere Zahl. Es schien ein angemessener Name zu sein für eine Spezies, die endlos altert. Der Metabolismus der Pi verbietet einen natürlichen Tod, zumindest so, wie wir ihn definieren. Der Alterungsprozess verlangsamt sich mit zunehmender Zeit, aber stoppt niemals. Beobachtungen haben gezeigt, dass die ältesten Pi kaum mehr als eine Ansammlung von Zellen sind, jedoch mit allen Merkmalen eines lebendigen Organismus. In der Kultur der Pi gehört zu der Erlangung der eigenen Mündigkeit die Übergabe des sog. ‘Geschenks’; ein Mechanismus, der, mithilfe einer chemischen Substanz, den Alterungsprozess stoppt und den Organismus tötet. Jeder Pi bestimmt damit eigenhändig über das Ende seines Lebens.«

Dr. García pausierte an dieser Stelle seinen Vortrag. Die Stelle an seinem Finger, wo einst sein Ehering saß, juckte. Er beobachtete die Stelle wie ein Naturforscher auf der Suche nach einem seltenen Tier. Die Haut war blass und trocken. Dann richtete er sich erneut an die Studierenden.

»Mir stellt sich die Frage: Ist der Tod ein Geschenk?«

Modul: Entwicklungsbiologie, Einleitung erweiterte Biogerontologie anhand der Pi – verantwortlich: Dr. Ruben García

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