Barry White

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„Aufmachen.“
Barry White tippte mit der Rückseite seiner Taschenlampe gegen die schmierige Heckscheibe. Die Rücklichter des weißen Honda Accords, der am Straßenrand parkte, brannten trübe in der Dunkelheit. Er umrundete den Wagen und baute sich mit verschränkten Armen vor der Fahrertür auf. Die meisten Leute mussten ihn erst direkt vor sich sehen, bevor sie sich bemühten, seinen Anweisungen zu folgen. Aber wenn sie ihn erst mal zu Gesicht bekamen, war jede Zurückhaltung meist schnell verschwunden.
Der Mann hinter dem Steuer schaute erst eine Weile gerade aus, bevor er ohne jede Eile seinen Kopf langsam zur Seite drehte und ihm schließlich unschuldig in die Augen blickte. Seine Hände nahm er dabei nicht vom Lenkrad. Er war ein kleiner Mann, ein echter Hänfling und so wie er hinter dem Steuer saß, den Sitz weit nach vorne gezogen, eigentlich eine Nummer zu klein. In Gedanken zählte Barry hoch.
Eins.
Das wars. Der Mann unterbrach den Blickkontakt. Barry schmunzelte. Er war offensichtlich eher von der schüchternen Sorte. Die meisten schafften es zumindest bis zwei oder drei.
Barry starrte ihn weiter an und wartete auf die nächste Gelegenheit. Fünfzehn Sekunden vergingen und seine Geduld löste sich in Luft auf, denn der Mann schien der Überzeugung zu sein, unmittelbar in Stein verwandelt zu werden, sollte er Barrys Blicke länger als eine Sekunde erwidern. Stattdessen schaute er in den Rückspiegel, auf den Türrahmen und schließlich direkt auf Barrys Dienstwaffe.
Seine Haare waren mittellang und mittelblond, nichts besonderes. Sein Gesicht war weder besonders kantig, noch besonders rund. Ein echtes Durchschnittsgesicht. Das einzige, das Barry sofort auffiel, war ein halbmondförmiges Muttermal unter seinem rechten Auge, das auf seiner hellen Haut so deutlich herausstach, wie ein übergroßes Mohnkorn auf frisch geputzten Zähnen.
Barry klopfte noch ein zweites Mal. Dann schlug er mit seiner rechten Hand auf das Dach. Der Mann zuckte zusammen, so als hätte er einen Schuss gehört. Daraufhin ließ er das Fenster runter.
„Ja?“, sagte er und schaute ihm endlich länger als eine Sekunde in die Augen.
„Führerschein.“
Der Mann schob seine Hüfte ein Stück vor und zog eine alte Geldbörse aus der Hosentasche.
„Ja. Moment“, antwortete er. Seine Stimme klang so flüchtig und körperlos wie ein Schuss Milch, den man in einem Glas Wasser aufgelöst hatte.
„Wohin soll’s denn gehen?“
„Moment“, sagte der Mann und ignorierte damit die Frage. Er zog einzelne Dokumente aus der Geldbörse und klemmte sie unter seinem Kinn ein. Sein Hals warf dabei dicke Falten, in denen sich tiefblaue Schatten fingen. Er hatte einen überraschend dicken Hals. Oder einfach nur viel Haut. Barry fragte sich, wie viel er wohl wiegen mochte. Wenn er Mätzchen machte, würde es ihm nicht schwer fallen, ihn einfach in den Graben neben der Straße zu werfen. Vielleicht könnte er ihn sogar direkt am Schlafittchen aus dem Fenster ziehen. Ob das möglich war?
Irgendwo in der Gegend krächzte ein Vogel. Barry schaute die auffällig gerade verlaufende Straße entlang. Das Grau der Straße wurde zu dunkelgrau und dann zu schwarz. Wenn hier etwas passierte, hieß es Mano-a-Mano.
„Ich find ihn nicht.“
„Nicht nervös werden“, sagte Barry flapsig und lächelte. Er war daran gewöhnt, dass Leute in seiner Gegenwart schnell die Nerven verloren.
„Du kommst mir bekannt vor“, fügte er hinzu. Und meinte es auch so. Der Mann aktivierte eine Erinnerung tief in seinem Kopf, dort wo das Licht schwach war und zumeist alles aufbewahrt wurde, was ihm entweder Schwierigkeiten bereitete oder schlichtweg egal war.
„Hier ist er.“
Der Mann hielt den Führerschein zwischen Zeigefinger und Daumen. Er hatte auffallend knochige Finger wie kleine Stöcker, die makellos gepflegt waren. Barry warf einen kurzen Blick auf das Bild, Datum und den Namen. Jim Johnson. Nichts besonderes. Dann gab er den Führerschein zurück.
„Sie sind ein echt dünner Mann, Jim Johnson. Ein echter Slim-Jim. Das haben sie bestimmt schon mal gehört, oder?“
Barry lachte und trommelte mit den Fingern auf dem Autodach. Er hatte ein Händchen für Worte. Das sagten alle, die ihn kannten. Seine Frau hatte sich darüber schon häufig beschwert. Wenn du doch einfach nur mal deinen Mund halten würdest, hatte sie immer gesagt.
Slim Jim senkte seinen Kopf und schaute für einen kurzen Moment beschämt in den Fußraum. Dann reckte er Barry unterwürfig seinen Kopf entgegen. Seine Stirn glänzte etwas.
„Noch nicht. Um ehrlich zu sein.“
„Warum so spät noch hier draußen?“
„Warum?“, fragte Jim.
„Ja, warum?“, wiederholte Barry.
Er warf einen Arm auf das Dach und lehnte sich zu ihm in den Wagen. Jim rutschte auf seinem Sitz zurück.
„Woher kennen wir uns Jim?“, fragte er und tippte gleichzeitig mit seinen Fingern den Takt zu AC/DCs Back in Black auf dem Autodach.
„Ich fahre nach Hause.“
„Man, ich kenn dich doch.“
Jim wich seinem Blick aus und schaute stattdessen auf seine Armbanduhr. Barry folgte seinem Blick. Es war ein schlankes Modell aus Edelstahl. Das Kunstlederarmband war an allen möglichen Stellen aufgeplatzt. Die Uhr zeigte halb drei in der Früh. Und der Sekundenzeiger war stehengeblieben. Ihm fielen solche Dinge auf. Ihm fiel eine Menge auf, deswegen war er Polizist geworden. Jim hielt ihm den Führerschein direkt vor die Nase.
„In Ordnung?“
„Das Nummernschild hängt“, sagte Barry.
„Wie?“
„Schief. So.“
Barry winkelte seinen Unterarm an. Dann öffnete er die Fahrertür.
„Aussteigen.“
Jim Johnson schob seine buschigen Augenbrauen ein Stockwerk nach oben.
„Na kommen sie schon, Herr Slim Jim“, sagte Barry und lächelte.
Jim stieg aus und Barry führte ihn um den Wagen. Barrys Streifenwagen, der etwa drei Meter hinter dem Honda schief an der Straße stand, warf einen hellen Lichtkegel durch die feuchte Luft auf das Heck von Jims Gefährt.
Barry blieb einen Meter vor dem Nummernschild stehen und verschränkte die Arme. Dann rümpfte er die Nase. Aus seiner Jacke holte er eine kleine Dose mit Tigerbalsam. Er schmierte sich eine Daumenbreite davon auf die Oberlippe. Er atmete tief ein und betrachtete anschließend das Nummernschild.
„Schief wie ein Mann mit einem zu kurz geratenen Bein“, sagte Barry.
Jim lachte nicht, sondern stand mit angezogenen Schultern und verschränkten Armen neben ihm und rieb sich die Oberarme. Im Gegensatz zu Barrys dicker Funktionsjacke trug er nur einen dünnen grauen Pullover und eine faltige Stoffhose in Karottenfarbe, die so locker saß wie an einer Schaufensterpuppe mit Beinen aus Plastik.
„Muss in der Waschanlage passiert sein.“
„Waschanlage?“
„Ja genau. Sie wissen schon. Mit den Bürsten, dem Wasser und …“
Barry hob eine Augenbraue.
„Ah. Ein Comedian.“
Er ging zu dem Wagen und zeichnete mit seinem Zeigefinger eine krumme Linie in den Schmierfilm auf der Heckscheibe. Die Farbe des Autos war Silber, vermutete er. Der Schmierfilm machte aus dem Silber ein speckiges Grau.
„Gewaschen, ja?“
Jim schaute auf den Boden. Er zitterte mittlerweile, was kein Wunder war ganz ohne Jacke.
„Nur gesaugt.“
„Wenn ich also gleich in den Wagen schaue, finde ich kein Staubkorn?“
„Bitte?“, fragte Jim höflich.
Barry lachte. Dann kniete er sich zu dem Nummernschild.
„Ich mache doch nur Spaß, Jim. Mein Werkzeug liegt hinten im Wagen. Ich schraube das Ding wieder fest und dann kanns weiter gehen.“
Er streckte Jim seine Hand hin. Dieser verfolgte die Bewegung, machte jedoch keine Anstalt, den Handschlag zu erwidern.
„Ich heiße übrigens Barry. Barry White. Ihr Freund und Helfer. Der Retter in der Not“, sagte er und zwinkerte.
„Barry White? Wie der Sänger?“
„Kenne ich nicht. Barry White, wie Barry White.“
Jim lächelte und vermied es, ihm in die Augen zu schauen. Stattdessen kratzte er sich hinterm Ohr und schaute zur Fahrertür, die immer noch offen stand.
„Ich würde mich gerne wieder reinsetzen.“
„Geh. Geh“, sagte Barry, „Ich sehe zu, dass das Ding hier wieder fest wird. Mir friert nämlich auch langsam der Arsch ab.“
Jim ging zurück und setzte sich wieder hinein. Barry bemerkte, dass er die Hände direkt wieder auf das Lenkrad legte. So wie er da saß, mit geradem Rücken und den Händen am Steuer, wirkte Slim Jim wie ein Crashtestdummy.
Er war wirklich ein merkwürdiger Mann. Wenn man so wie Barry sein ganzes Leben im Streifendienst verbrachte, traf man so einige merkwürdige Menschen. Aber Jim Johnson schaffte das seltene Kunststück, gleichzeitig der normalste Mensch und der schrägste Vogel der Welt zu sein.
Barry zog eine kleine Zigarettenkiste aus seiner Jackentasche. Er schnippte sie auf, nahm eine Selbstgedrehte raus und klebte sich diese in den feuchten Mundwinkel. Er zündete sie an und trottete zu seinem Wagen.
Irgendetwas an Jim Johnson ließ ihn einfach nicht los. Er war schon einer Menge Menschen in seinem Leben begegnet und mit ruhigem Gewissen konnte er sagen, dass die meisten ihm völlig egal waren. Und mit genau so ruhigem Gewissen konnte er sagen, dass er sich an die meisten kein Stück mehr erinnerte. Das einzige, was sie in seinem Kopf hinterließen, waren kleine Fragmente. Ein besonders großes Ohr, eine Narbe am kleinen Finger oder eine schräge Aussprache von Serviette. Aber bei Jim Johnson war da noch etwas mehr. Wie ein Wort, das ihm nicht einfallen wollte, lag es ihm auf der Zunge. Aber er konnte sich nicht erinnern.
Dann dachte er an seine Frau. Ganz automatisch. Sie hatte schon immer einen Haufen männlicher Freunde gehabt. Warum das so war, hatte er nie voll und ganz verstanden. Aber es hatte ihn auch nie gestört. Was war schon dabei?
Irgendwann hatte sie jedoch begonnen, einen Feuerwehrmann zu treffen, der direkt gegenüber der Polizeiwache auf der anderen Straßenseite arbeitete. Barry hatte sie oft gefragt, warum sie ausgerechnet einen Feuerwehrmann treffen musste. Daraufhin hatte sie ihm jedes Mal erzählt, dass sie ihn kannte, seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war. Warum das erklären sollte, dass sie ihn nun wieder traf, verstand er nicht. Auch warum er jetzt an ihn dachte, verstand er nicht. Er hieß nicht Jim. Oder Johnson mit Nachnamen. Er wusste überhaupt nicht, wie er hieß. Du weißt schon Barry, der Feuerwehrmann, den ich von früher kenne. Unter dieser Bezeichnung kannte er ihn.
Aus dem Kofferraum hob er einen alten grasgrünen Werkzeugkoffer und ging zurück. Durch die Heckscheibe warf er einen weiteren Blick auf Jim.
Dieser Schatten von einem Mann war auf gar keinen Fall ein Feuerwehrmann. Wenn er sich gut anstellte, taugte er vielleicht zum Fahrer. Ansonsten war er mehr der Bürotyp.
Die rechte Schraube des Nummernschilds war aus der Plastikwand gerissen. Er hatte Glück, denn sie hing noch im Nummernschild. Mit seinen Pranken hatte er Schwierigkeiten, die Schraube vernünftig zu packen. Sie waren für solche Fummelarbeiten einfach nicht geschaffen. Außerdem waren sie mittlerweile von der Kälte halbtaub. Und bei der ersten Berührung mit dem Nummernschild, riss auch die zweite Schraube auf der anderen Seite raus. Er hielt nun das komplette Nummernschild in der Hand wie ein Neugeborenes. Jeder Atemzug sorgte für einen kleinen Nebelschwall vor seinen Augen. Seine Lippen brannten von der Kälte und dem Tigerbalsam. Er rümpfte die Nase und beschloss, seinen Arbeitsplatz ins Innere des Autos zu verlegen.
Er ließ sich auf die Rückbank fallen und zog die Tür hinter sich zu. Er bemerkte, dass Jim ihn dabei durch den Rückspiegel beobachtete.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jim überraschend interessiert.
Barry zog die Handschuhe aus.
„Arschkalt da draußen. Komisch für die Jahreszeit, oder?“
„Ich kann auch zu einer Werkstatt fahren. Direkt morgen.“
„Schwachsinn.“
„Mir macht das wirklich nichts aus.“
Jim justierte den Rückspiegel.
„Schwachsinn. Und jetzt Ruhe. Ich muss mich konzentrieren. Zu einer Werkstatt fahren, sagt er …“
Er hatte das Nummernschild mittlerweile aus der Plastikverkleidung geholt und es auf den Sitz neben ihm gelegt. Er drehte die erste Schraube aus dem Schild. Sobald sie draußen war, rutschte sie ihm durch die kalten Finger und fiel in den Fußraum. Er lehnte sich nach vorne und begann zu schnaufen.
„Was ist passiert?“, fragte Jim.
Der Fußraum war pechschwarz. Blut stieg ihm in den Kopf und klopfte rhythmisch von innen an seine Schläfen. Er tastete nach der Schraube. Zu seiner Überraschung spürte er nichts anderes als rauen Synthetikteppich. Keine Krümel. Keine kleinen Stöcker oder Steinchen. Der Fußraum musste blitzblank gesaugt worden sein. Nur ein kleines Haargummi oder etwas in der Art spürte er. Dann fand er die Schraube und richtete sich auf.
Er betrachtete sich im Rückspiegel. Sein Kopf war purpurrot und eine dicke Ader lief im Zickzack seine Schläfe entlang. Seine Wangen waren fleischig und sein Bart etwas zu lang. Er seufzte. Das Nummernschild hielt er nach vorne und klopfte Jim damit gegen die Seite seiner Schulter, der prompt zusammenzuckte.
„Einfach rausdrehen.“
Jim zögerte.
„Nimm schon. Ich krieg das nicht hin.“
Jim lehnte sich zur Beifahrerseite rüber und öffnete das Handschuhfach. In diesem stand eine Pappschachtel, aus der er ein Paar Einweghandschuhe zog. Er zog die Handschuhe über und nahm das Schild entgegen.
Barry beobachtet das Schauspiel mit Skepsis.
„Das Schild ist schmutzig“, rechtfertigte sich Jim. Barry zuckte mit den Schultern.
Jim Johnson entfernte die Schraube ohne Schwierigkeiten. Er war geschickt mit seinen Händen. Dann gab er Schraube und Schild zurück nach hinten.
„Bitte sehr.“
„Ich habe noch nie ein Wagen gesehen, der von außen so dreckig und von innen so sauber war.“
Jim schwieg.
„Weißt du, was mich an Feuerwehrmännern stört? So ganz allgemein? Die sind einfach immer die Helden. Ist dir das schon mal aufgefallen? Wir Polizisten, was sind wir denn schon im Vergleich? Wir riskieren auch jeden Tag unser Leben. Jeden Tag. Aber ein Feuerwehrmann? Die polieren sich den lieben langen Tag gegenseitig die Schläuche und verlassen ab und an mal das Haus. Aber dann sind sie sofort die Helden. Wenn du ein Held sein willst, dann werde Feuerwehrmann. Gott verdammt.“
Jim schwieg immer noch und blinzelte drei Mal.
„Bist nicht so der gesprächige Typ, was? Aber ist schon gut. Meine Frau war genau so. Hat nie was gesagt. Und dann ist sie einfach ausgezogen. Mit meiner Tochter und den Katzen. Einfach so. Und jetzt ist sie gottweißwo mit gottweißwem. Komisch, nicht wahr?“
„Das tut mir Leid“, sagte Jim und schaute ihm über den Rückspiegel in die Augen. Barry hatte das Gefühl, dass es ihm wirklich Leid tat.
„Familie?“, fragte er.
„Nein.“
„Ein freier Mann“, murmelte er.
Er begann langsam das Schild wieder in die Plastikverkleidung einzusetzen. Die zwei Schrauben verstaute er in seiner Jackentasche.
„Am meisten vermisse ich meine Tochter. Wir haben jeden Morgen zusammen gefrühstückt. Jetzt frühstücke ich gar nicht mehr.“
Er war mit dem Schild fertig.
„Abnehmen tue ich trotzdem nicht. Habe ich von meiner Mutter.“
Jim bewegte sich nicht. Und Barry fragte sich, ob er wohl eingeschlafen war.
„Der dicke Barry. So haben sie mich immer genannt früher. Meine Frau hat das nie gestört.“
Barry stieß die Tür auf. Der kalte Nordwind erinnerte ihn daran, dass er sich besser beeilte. Jim hielt ihn auf, bevor er hinaus ging und machte ihn auf den anderen Passagierplatz aufmerksam. Dort lag ein zusammengeknülltes Stück Papier. Es musste Barry aus der Jacke gefallen sein.
„Tut mir leid“, sagte Jim, „eine Angewohnheit.“
„Schon gut“, sagte Barry und steckte das Papier zurück in seine Jackentasche.
Auch beim zweiten Versuch hatte Barry Mühe, das Schild anzubringen. Nach einer Weile war er fertig. Das Schild war wieder an Ort und Stelle und er brachte das Werkzeug zurück in seinen Wagen. Dann ging er zum Fenster auf der Fahrerseite. Dieses Mal ließ Jim das Fenster ohne Aufforderung herunter.
„Fertig“, sagte Barry.
Jim nickte.
„Vielen Dank. Wissen sie was? Für mich sind sie ein Held.“
„Du bist wirklich ein schräger Geselle, Jim Johnson“, sagte er, aber fühlte sich trotzdem geschmeichelt. Es kam nicht so häufig vor, dass jemand mit ein paar netten Worten auf ihn reagierte.
„Warum glaubst du, ist meine Frau gegangen?“
„Hat sie nichts gesagt?“
„Wie?“
„Hat sie nicht gesagt, warum sie geht?“
„Sie hat nie viel geredet.“
„Die meisten Menschen sagen, warum sie gehen.“
„Sie hat nie etwas gesagt. Wenn sie was gesagt hat, dann nur Barry, du redest zuviel.“
Jim schaute wieder auf die Uhr.
„Ich muss jetzt wirklich nach Hause.“
„Ich kann sie einfach nicht verstehen.“
„Barry?“
„Was?“
„Ich würde jetzt gerne los.“
Barry seufzte.
„Rufen Sie ihre Frau an. Und fragen sie sie, warum sie gegangen ist.“
„Sie wird nicht mit mir reden.“
Jim sagte nichts mehr, sondern drehte den Schlüssel in der Zündung. Der Honda brauchte ein paar Anläufe, bis er zum Leben erwachte.
„Noch eine letzte Frage“, begann Barry, „wir haben uns wirklich noch nie gesehen?“
„Noch nie“, sagte Jim.
„Gute Fahrt, Jim Johnson“, sagte Barry. Der Wagen kam langsam in Bewegung und schwenkte auf den Asphalt. Barry schaute den roten Rücklichtern solange hinterher, bis sie in der Dunkelheit verschwanden. Dann stieg er in seinen Wagen, wendete und fuhr in die entgegengesetzte Richtung nach Hause.
Er stellte den Wagen auf der mit dicken Steinplatten gepflasterten Auffahrt vor dem geschlossenen Garagentor ab. Den Werkzeugkoffer nahm er mit ins Haus und stellte ihn im Flur ab. Er machte sich nicht die Mühe, diesen noch in die Garage zu bringen.
Im Haus war es still. Es roch nach Zigarette und Pfefferminzöl. Er zog seine Jacke aus, leerte sie über der Kommode und hängte sie über den Kleiderständer. Er ging in die Küche, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch. Er massierte seine Stirn und rieb seine Augen. Dann ging er noch mal zurück zur Kommode, um seine Zigaretten zu holen. Dort bemerkte er den Zettel, der ihm in Jims Wagen aus der Jackentasche gefallen war. Und ganz tief in seinem Innersten meldete sich eine leise Stimme. Die verlorene Erinnerung war nun auf dem Weg nach oben.
Er faltete ihn auf. Auf diesem Zettel, der vor einem Monat an jeden Streifenpolizisten verteilt worden war, war ein Gesicht zu sehen. Es war das Bild eines normalen Mannes. Nichts besonderes. Eines Mannes, der in den letzten zwölf Monaten mutmaßlich fünf Menschen getötet und verscharrt hatte. Drei der Opfer waren junge Mädchen im Alter von zehn bis sechzehn Jahren. Im Alter seiner Tochter. Es war das Bild eines dünnen Mannes von unscheinbarer Statur. Müde Augen und dünnes Haar. Das einzige, was diesen Mann von tausend Anderen unterschied, war ein halbmondförmiges Muttermal unter dem rechten Auge.
Ein Schauer lief Barry den Rücken hinunter. Er nahm das Telefon und wählte. Er rief nicht seine Frau an, sondern seinen Vorgesetzten. Ungeduldig wartete er die Freizeichen ab.
„Barry, du redest zuviel“, murmelte er vor sich hin, „du bist ein echter Held, Barry. Ein echter Held.“

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